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Schobloch Karen: Abolitionistische Modelle im Rechtsstaat
I.Wurde
ich in den letzten Monaten gefragt, worüber ich promoviere, so habe ich es
– nach den ersten Versuchen – wohlweislich unterlassen, den Titel
meiner Arbeit zu nennen: „Abolitionistische Modelle im Rechtsstaat“.
Denn ich habe festgestellt, dass die meisten mit dem Terminus
„Abolitionismus“ nichts, oder wenn, dann höchstens die
Abschaffung der Sklaverei verbinden konnten. Also sagt ich auf jene Frage nach
dem Thema: „Ich promoviere über die Abschaffung des
Strafrechts.“ Die Reaktionen
waren heftig: man war entsetzt. Zu sehen und zu spüren war die Sorge meiner
Zuhörer vor Anarchie, davor, dass ich das freie Spiel der Mächte
propagieren könnte und so womöglich Argumente für die
Wiedererstarkung der Herrschaft des Bösen liefern wolle.
Ich denke, meine
Gesprächspartner hätten sich beruhigt, wenn sie mich – ohne
gleich furchtsam das Thema zu wechseln – hätten fortfahren lassen und
ich hätte sagen können: „Ich untersuche, ob die Abschaffung des
Strafrechts in einem Rechtsstaat überhaupt denkbar
ist.“Denn stellen nicht
die Abolitionisten Alternativen vor, die, jedenfalls als Modelle, besser sein
sollen als das Strafrecht? Lohnt sich daher nicht der Blick auf solche Modelle,
vor dem Hintergrund eines Strafrechts, dessen „Dysfunktionen“, wie
Louk
Hulsman, ein Abolitionist, es nennt,
offensichtlich sind – und die sich, wie
Nils
Christie, ein weiterer Abolitionist,
meint, vornehmlich „durch die Zufügung von Leid“ auszeichnen?
Wäre es nicht notwendig, dieses „Bessere als das Strafrecht“ zu
suchen, wie schon Gustav Radbruch, der es systemimmanent zu finden hoffte, nun
aber, mit den Abolitionisten (und ganz anderes als die Minimalisten)
außerhalb der Kategorien eines solchen Rechts – und vielleicht auch
außerhalb der Kategorien von Recht und
Staat?II.Bevor
ich Ihnen meine Gliederung vorstelle, möchte ich Sie einladen auf eine
gedankliche Reise in ein visionäres Bild.
Nils
Christie, einer der vier Abolitionisten,
die ich in meiner Arbeit untersucht habe, stellt diese Vision vor. Er ist
Norweger, Professor für Kriminologie in Oslo, und seit 30 Jahren
unermüdlich daran, diese Vision zu vertreten. Sein Modell hat er selbst
gelebt: in einem Dorf in Norwegen, namens Vidaråsen, leben so geistig
Behinderte und nicht Behinderte zusammen und
Christie
hat sich dorthin, nach eigenem Bekunden, immer wieder
zurückgezogen.Stellen
Sie sich vor: Sie leben in einem solchen Dorf in Norwegen, um Sie herum Wasser,
grüne Täler, Einsamkeit. Es leben dort wenige hundert Menschen. Sie
haben die unterschiedlichsten Merkmale, die unterschiedlichsten Bedürfnisse
und Hintergründe – aber sie haben eines gemeinsam: einer Gemeinschaft
anzugehören, in der jeder jeden kennt; in der sich jeder auf den anderen
verlassen kann und: wo
alles
zur Sprache kommt, sei es im Dialog oder in der institutionalisierten
Gemeindeversammlung. Wenn Sie dort leben, sind Sie nicht Professor, Studentin,
Assistent, nein, Sie sind das, was man gerade braucht: mal sind Sie Holzhacker,
mal Köchin, mal Lehrerin, mal
Wäscher.Konflikte gibt es in
diesem Dorf auch. Sie werden als Bereicherung betrachtet, als Chance, über
die Werte der Gemeinschaft zu diskutieren, sie in der Diskussion auch
fortzuschreiben und so die moralischen Grundlagen lebendig zu erhalten.
Nils
Christie stellt uns dieses Modell als
Modell für den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit Konflikten vor:

Unter
folgenden fünf Bedingungen könne sein Modell funktionieren, sagt
Christie:
1. Möglichst
großes Wissen der Gemeinschaftsmitglieder voneinander.
2. Aus
der erreichten Nähe resultiert eine größere Verletzbarkeit
– vor dem Hintergedanken, das man anderen weniger weh tut, wenn man sich
besser kennt.
3. Menschen
leben in gegenseitiger Abhängigkeit, emotional wie auch hinsichtlich ihrer
Rollenverteilung.
4. In
den seltenen Fällen, in denen es zu einer Entscheidung über einen
Konflikt kommt, haben die Entscheidungsträger keine Macht und
5. letztlich:
das „Glaubenssystem“, das kein im eigentlichen Sinne religiöses
System ist, sondern ein Wertesystem darstellt, das gegenseitigen Respekt
verspricht und eine moralische Kultur entstehen lässt, in der sich die
Zufügung von Leid von selbst verbietet.
Jeder
Konflikt wird im Einvernehmen gelöst – man muss ja auch miteinander
auskommen, es ist wie in einer großen Familie. Kommt es zu einem Konflikt,
kann das Nachbarschaftsgericht angerufen werden. Es gibt dort keine Experten,
nur Laienbeteiligte. Die Parteien sind Täter, Opfer und die Gemeinschaft.
In einer ersten Phase wird in
typisch juristischer Weise unter einen objektiven Tatbestand subsumiert und ein
Täter ermittelt. In der zweiten Phase aber, der wichtigsten im Verfahren,
die „Stunden, oder gar Tage soll dauern dürfen“, wie
Christie
sagt, wird der Konflikt nun von allen Seiten diskutiert, betont aber von der
Perspektive des Opfers aus. Was bedeutete der Konflikt für das Opfer, aber
auch für die Gemeinschaft? Welche Werte kamen dabei zum Ausdruck? Welche
Bedürfnisse zeigen sich nun und wie können die befriedigt werden?
Diese Phase kann mit konkreten Forderungen an den Täter von Seiten des
Opfers und/oder der Gemeinschaft enden.
In der dritten Phase kann derjenige,
der in diesem Verfahren zum Richter bestellt ist, den Täter zusätzlich
zu den bereits formulierten Forderungen bestrafen. Diese Kompetenz beruht auf
dem Gedanken
Christies, dass Rache– und
Vergeltungsbedürfnisse der Gemeinschaft an dieser Stelle
möglicherweise noch nicht ausreichend befriedigt seien und in der
Erlaubnis, sie auszuleben, sieht
Christie
langfristig die Chance, dass derartige Bedürfnisse vollkommen abklingen
werden. Am Ende – so das Ideal
– sind alle befriedet; die Gemeinschaft ist gestärkt. Die
Verständigungsbereitschaft ist groß, denn was bleibt auch anderes
übrig? Es gibt keine Fluchtmöglichkeiten außer dem Abbruch der
sozialen Beziehungen. Kein Wunder also, dass es kein Gefängnis gibt, es
ruft auch keiner danach. Kein Wunder, dass es kein Strafrecht gibt: die
Definition, die Einordnung und die Lösung eines Konfliktes können Sie
als Beteiligte ja viel angemessener übernehmen als dies irgendein
vorgegebener Rahmenleisten könnte.... Es gibt auch keine repressiven Mittel
– so soll es jedenfalls
sein.Ist dies eine Idylle? Oder eine
trügerische Idylle? Wollten Sie
tauschen?Stellen Sie sich vor:
Sie sind wahrer oder vermeintlicher Täter in einem „Konflikt“
und müssen sich vor einem solchen Gemeinschaftsgericht verteidigen. Es gibt
keine festgelegten Verfahrensrollen – aber vielleicht hilft Ihnen ja der
beste Freund, denn Anwälte gibt es keine. Sie müssen, um vor der
Gemeinschaft Glaubwürdigkeit zu erlangen, Ihr Innerstes nach außen
kehren, alle Beweggründe der Tat artikulieren. Gegen das gemeinschaftliche
Diktum gibt es keinen Rekurs, aber es wird ja „weich“ ausfallen, es
gibt ja das Glaubenssystem. Vielleicht bietet Ihnen auch jemand Hilfe an.
Es gibt kaum etwas von dem, was wir
rechtsstaatliche Garantien nennen, aber Sie könnten viel gewinnen:
Gemeinschaftsgefühl, Zugehörigkeit; Verständnis und die Milderung
von Nöten. Wollten Sie nun
tauschen?Der Rechtsstaat
– auf der anderen Seite – formalisiert die Konfliktlösung. Es
gibt bestimmte Rollen, bestimmte Rechte, gegen den Ankläger, gegen
Machtmissbrauch. Als Opfer müssen Sie im Rechtsstaat nicht diskutieren, ob
ein bestimmtes Verhalten für Sie tatsächlich ein ernstzunehmender
Konflikt darstellte, es ist prinzipiell für alle gleich. Der Rechtsstaat
will objektive Gleichheit – wohingegen es
Christie
um subjektiv empfundene Gerechtigkeit geht.
Christie
geht es mehr um den Weg der Konfliktlösung als um das Ergebnis –
während man im Rechtsstaat objektive Lösungen sucht. Im Rechtsstaat
gibt es vorhersehbare Strukturen – die
Christie
ablehnt weil sie der Verschiedenheit der Menschen nicht entsprechen. Und: Im
Rechtsstaat werden Lösungen ohne moralische Verpflichtungen gesucht –
darum aber gerade geht es
Christie:
er will Vergebung und Versöhnung. Wir sind mitten im Thema.

III.Wie
verhalten sich nun Abolitionismus und Rechtsstaat
zueinander?Sind sie nicht auf den
ersten Blick ganz offensichtlich miteinander unvereinbar? So sieht es aus, wenn
man nach dem Vorhandensein rechtsstaatlicher Garantien sucht und erkennt, dass
sie fehlen. In abolitionistischen Modellen gibt es keine objektive Gleichheit:
es gibt keine Bestimmtheit von Normen, keine Festlegungen der Strafbarkeit, bei
Hulsman
gibt es noch nicht einmal Tatbestände. Es gibt kein formalisiertes
Verfahren, keine Verfahrensrollen, keine institutionalisierten Garantien zum
Machtausgleich. Die Liste ließe sich erweitern.
Man erkennt, dass rechtsstaatliche
Garantien Gegenstand der Kritik sind, ja, dass sie explizit abgelehnt werden,
und auch, dass diesen Garantien Äquivalente entgegengesetzt werden, die
kaum je rechtlicher Natur sind.
Aber: wie konstitutiv sind
rechtsstaatliche Garantien eigentlich für den Rechtsstaat? Ist der
Rechtsstaat nur dann ein solcher, wenn er rechtliche Kontrolle bietet? Oder kann
Machtmissbrauch auch durch gesellschaftliche Kontrolle verhindert werden oder
gar durch gesellschaftliche Verhältnisse, die den Machtmissbrauch
unwahrscheinlich erscheinen lassen?
Ist der Rechtsstaat nur dann ein
Rechtsstaat, wenn er Objektivität und Gesetzlichkeit bietet? Oder ist
Rechtsfriede nicht auch durch subjektive Modelle wie jenes von
Nils
Christie erreichbar?
Die Wirkung und Notwendigkeit
rechtsstaatlicher Garantien ist abhängig von der gesellschaftlichen
Struktur, in der sie existieren. In alternativen Gesellschaften bedeutet ihr
Fehlen daher noch nicht viel. Wenn man aber die Frage stellt, ob Alternativen
nicht äquivalent sein können, so muss man sich auf die Grundlagen des
Rechtsstaats beziehen und nach den Minimalprinzipien des Rechtsstaats fragen,
die möglichst unabhängig von gesellschaftlicher Struktur, Zeit und Ort
gelten können. Es stellt sich daher die Frage
- welche
gesellschaftlichen Strukturen in einem Rechtsstaat möglich
sind
- welchen
Zielen der Rechtsstaat dient, und
- welches
Menschenbild ihm zugrunde liegt.
IV. Der
Rechtsstaat hat sich zu einer Zeit entwickelt, als auch das Recht sich zunehmend
säkularisierte. War es doch die längste Zeit ein Ausdruck der
Untertänigkeit des Menschen unter ein transzendentes Wollen, unter das
Lenken Gottes gewesen, so stellt es sich in den Zeiten der Aufklärung
zunehmend als Mittel dar, das sich der Mensch selbst gibt und durch das sich der
Mensch in den Mittelpunkt einer Ordnung stellt. Das Ziel war nun, Menschen als
freie und gleiche Individuen miteinander zu verbinden. Dies ist zentral für
das Recht im Staat, wie es auch in der Fiktion des Gesellschaftsvertrages zum
Ausdruck kommt. Der Staat ist in
diesem Bild notwendiges Organ zur Selbstkontrolle im Bewusstsein eigener,
menschlicher Schwächen.
Hobbes
hat dies emphatisch ausgedrückt als
er den Staat beschrieb als „jenen Leviathan, oder besser jenen sterblichen
Gott, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und unsere Freiheit
verdanken“. Dadurch aber ist
der Staat auch begrenzt auf dieses Ziel, nämlich die Gewährleistung
einer Ordnung, in der jeder seine Freiheit entfalten kann. Die klassischen
Staatszwecke sind so ab- und ausgrenzend:
- Abgrenzend
im Verhältnis zum Mitmenschen, zur Sicherung eigener und damit
individueller Freiheitsräume; dies bildet die Begründung für die
Notwendigkeit von Recht;
- Ausgrenzend
im Verhältnis zum Staat in der Begrenzung auf den genannten
Zweck.
Recht,
Staat und Individuum sind im Rechtsstaat untrennbar miteinander verbunden und
der Rechtsstaat präsentiert sich
so als
Entfaltungsordnung von Freiheit und als Erhaltungsordnung durch
Recht.
Dass diese Freiheit individuell ist,
zeigt nicht nur der geschichtliche Rückblick, sondern auch der Blick auf
die Wirkungsweise der Garantien, die Abwehrrechte gegen den Staat sind, die das
Individuum auch gegen den Staat in den Mittelpunkt stellen, und die sich aus
einem selbstbestimmten, abgegrenzten aber gleichwohl Gemeinschaftsbezogenen
Menschenbild herleiten. So hat schon
Hobbes
den Menschen als des Menschen Gott und des
Menschen Wolf bezeichnet und
Kant
wähnte den Menschen als am liebsten
in „ungeselliger Geselligkeit“ lebend. Wie aber stellt sich nun der
Abolitionismus dazu?
Christie will sicher keine individuelle
Freiheit, wenn sie denn ausgrenzend ist.
Christie
will einbinden und die Gemeinschaft mindestens ebenso sehr, wenn nicht sogar
stärker als das Individuum betonen. Wo ein Glaubenssystem Machtmissbrauch
verhindern soll: liegt dort ein anderes Menschenbild oder ein anderes
Freiheitsverständniszugrunde?IV.Zentral
für die Gegenüberstellung von Abolitionismus und Rechtsstaat erweist
sich demnach der Begriff der Freiheit. Was meint eigentlich Freiheit, von der
ich hier spreche? Wenn der Rechtsstaat Entfaltungsordnung von Freiheit ist, dann
müssen wir die Frage stellen nach den Voraussetzungen, wie wir unser Wesen
entfalten können, nach den Voraussetzungen einer Ordnung, die es uns
ermöglicht, zu dem zu werden, was wir sind.
 Wir können
auf einer Achse unterschiedlicher Auffassungen zur Frage der Selbst-Werdung
idealtypisch zwei Extreme unterscheiden: auf der einen Seite die atomistische
oder individualistische Grundhaltung, die davon ausgeht, dass sich der Einzelne
im Extrem völlig ohne Bezug zu seiner Mitwelt und Umwelt entfaltet, dass er
quasi atomistisch neben anderen lebt, oder in Leibniz’ deutlichem Bild als
„fensterlose Monade“ begriffen werden
soll.Auf der anderen Seite das
holistische Bild, wonach sich der Mensch
–wiederum im Extrem gedacht
– NUR durch die Beziehungen zur Um- und zur Mitwelt entfaltet, wie es
Marx
genannt hat: „der Mensch ist das Ensemble seiner gesellschaftlichen
Verhältnisse“. Die
normativen Konsequenzen einer solchen Grundhaltung können vielgestaltig
sein, wie die Pfeile auf der Folie verdeutlichen: Dies hat die Debatte um den
Kommunitarismus hinreichend gezeigt. Im Zuge dieser Diskussion hat sich auch die
Erkenntnis durchgesetzt, dass es für die Frage nach einer gerechten Ordnung
nicht so sehr um eine ontologische Grundentscheidung geht, als vielmehr um die
Werte, die in einem System zum Ausdruck kommen.
Denn wo man davon ausgeht, dass der
Mensch sein Leben selbst bestimmt, entwirft und gegen andere auch durchsetzt, da
gehören Werte dazu wie Vorhersehbarkeit und Planbarkeit von
Handlungsspielräumen (oder eben von Freiheitsräumen), Werte wie
Vernunft, objektive Gleichheit, auch die Abgrenzung von privaten und
öffentlichen Bereichen, sowie Wettbewerb, denn Wettbewerb ist Ausgrenzung.
Es ist das, was
Ferdinand
Tönnies „Gesellschaft“
genannt hat, es ist ein typisch liberalistisches System.
Wo aber die Gruppe als für die
eigne Entwicklung entscheidend angesehen wird, da geht es primär um das
Bestehen und Überleben der Gruppe, um die Einbindung des per se haltlosen
Individuums, also um Integration, Subjektivität, Gefühl auch, sowie um
die Aufhebung der Trennung von privatem und öffentlichem Bereich und
möglicherweise auch um die Existenz eines „gemeinsamen Gutes“,
wie Charles
Taylor dies fordert. Es ist dies ein
typisch kommunitaristisches System, oder das, was
Tönnies
„Gemeinschaft“ genannt hat.
Die Position des Rechtsstaats darin
ist traditionell sicherlich atomistisch begründet und liberalistisch
geprägt. Die Tendenz, den Menschen nicht nur als Individualperson, sondern
auch als Sozialperson zu sehen und damit die Hinwendung zum holistischen Denken
allerdings hat sich früh vollzogen und in dieser Gemeinwohlbezogenheit wird
der Mensch heute doch auch überwiegend betrachtet. Mit diesem Blickwinkel
hat der Rechtsstaat keine Probleme. Probleme entstehen, wenn
Gemeinschaftsinteressen Individualinteressen übergeordnet werden sollen,
denn die Zielrichtung des Rechtsstaats, das Individuum auch gegen den Staat zu
verteidigen, wird dann nicht geteilt. Wo der Staat nicht mehr auf den Zweck
begrenzt ist, die individuelle Freiheit seiner Mitglieder zu gewährleisten,
da wird die Umsetzung des Rechtsstaats schwierig. Der Rechtsstaat fordert
individuelle Freiheit, wie dies die ausgrenzenden Garantien tun. Elemente wie
Formalisierung, Abstraktion sowie objektive Gleichheit würden ziellos, wenn
sie nicht Aus- und Abgrenzung ermöglichen sollten, sondern – im
Gegenteil – Einbindung und Unterordnung.
Der Rechtsstaat ist nur dann ein
Rechtsstaat, wenn er die individuelle Wahl der Werte ermöglicht, die das
eigene Leben bestimmen sollen. Das ist keine Beliebigkeit, denn das
Charakteristikum der Wahl und Gewichtung eigener Werte ist als
Entfaltungsfreiheit ein Element der Menschenwürde. Dies hat niemand
pointierter formuliert als
Isaiah
Berlin, der gesagt hat: „To be free
to choose and not to be chosen for, is an inalienable ingredient of what makes
human beings human.” Also: Selbst zu wählen und nicht zu Wahl
bestimmt zu werden ist ein unverzichtbares Element der Menschenwürde.
Der Rechtsstaat stellt sich daher
als materieller Rechtsstaat dar, aufgeladen durch jenes „ethische
Minimum“, wie
Maihofer
dies genannt hat, durch den Bezug zur Menschenwürde. Die Beziehung zwischen
Freiheit und Menschenwürde ist eine notwendige, die Forderung nach
Gleichheit dann eine zwangsläufige, wenn wir mit Freiheit den Respekt vor
der Singularität jedes Einzelnen verbinden.
Als Minimalprinzipien erfordert der
Rechtsstaat somit strukturell Individualgehalt; die Werte Freiheit, Gleichheit
und Menschenwürde müssen gewährleistet sein. Für
Gemeinschaften mit anderen Werten gilt daher: sie dürfen jene Minimalrechte
ihrer Mitglieder nicht beschneiden oder ihnen die Rechtsgewährung an dem
gesellschaftlichen Rahmen nicht versagen.
Wo Individualinteressen den
Gemeinschaftsinteressen überzuordnen sind, da folgt für das
„Paradoxon der Freiheit“, wie
Popper
jenes spezielle Verhältnis von Freiheit und Sicherheit genannt hat, dass
Freiheit der Sicherheit im Zweifel überzuordnen ist. Wo Menschenwürde
als Element der Freiheit begriffen wird, da gilt für die Mittel der
Sicherheitsgewährleistung als Obergrenze die Menschenunwürdigkeit. Wo
schliesslich der Rechtsstaat nicht nur Entfaltungsordnung, sondern
Erhaltungsordnung, ist, da muss er Recht auch sichern. Im Ideal gibt es daher
die Forderung nach Normkonformität und Erwartungssicherung. Effizienz als
gesellschaftliche Funktion des Rechts ist ein Ziel, das nicht nur auf das
Strafrecht beschränkt ist.
V.Wir
müssen nun den Abolitionismus in diesen gesellschaftspolitischen Rahmen
einpassen. Ist Abolitionismus im Rechtsstaat strukturell
möglich?Erinnern wir uns an das
Modell von Nils
Christie und seine gesellschaftlichen
Bedingungen. Welchen Stellenwert hat der Einzelne gegenüber dieser
Gemeinschaft? Ich möchte das an einem Beispiel erläutern, das
Christie
selbst zitiert. In jenem Dorf
Vidaråsen gibt es die gemeinschaftliche Überzeugung, Einzelne
dürften nicht Experten werden, da so Machtpositionen verhindert werden
sollen: Christie
erzählt nun von einem Mitglied, der
sich am Computer besonders hervortat und dort zum „Experten“ wurde.
Er wurde dann, wie
Christie
es ausdrückt, „bestimmt dazu ermuntert“, diesen Arbeitsplatz zu
wechseln und nunmehr als Bauer tätig zu sein. Ich möchte dieses
Beispiel nun hypothetisch fortspinnen, denn bei
Christie
tut der Computerexperte, wie ihm geheißen. Was aber, wenn er es nicht tut?
Wenn er sich nicht anpassen will, wenn er die Gruppe nicht verlassen will ? Er
könnte mit seinem Anliegen vor die Gemeindeversammlung treten, doch diese
könnte auf dem Wert, keine Experten zuzulassen, beharren. Was, wenn unser
Protagonist aber findet, die Berufsfreiheit sei ein Teil seiner
Persönlichkeit, bei der Computerarbeit könne er seine Talente am
besten entfalten? Er könnte sich den Zugang zu seinem alten Arbeitsplatz
wieder verschaffen wollen. Vielleicht sitzt dort aber bereits ein anderer.
Möglicherweise kommt es zu einer nötigenden Handlung, vielleicht auch
zu einer Körperverletzung. Der Computerexperte beruft sich auf einen
Rechtfertigungsgrund. Es kommt zu einem
Nachbarschaftsverfahren.In der
ersten Phase wird völlig unproblematisch unter den Tatbestand der
Nötigung bzw. der Körperverletzung subsumiert werden, der Täter
steht ja fest. Interessant aber ist Phase zwei, wo nun diskutiert wird, was der
Konflikt für den Täter, für das Opfer und auch für die
Gemeinschaft bedeutete. Welche Werte kamen dabei zum Ausdruck? Die Frage nach
der Abwägung dieser Werte ist ja für die Frage nach der Berechtigung
von entscheidender Bedeutung. Die Gruppe bleibt nun dabei, ihr Gruppeninteresse
– Machtpositionen durch Expertentum zu verhindern – höher zu
bewerten als das Individualinteresse der Berufsfreiheit. Wir können daran
sehen, dass die Abwägung, die völlig durch die Moral der Gruppe
geprägt ist, entscheidend ist für das Ergebnis von Normverletzungen
jenseits aller Subsumtion. Die Bestimmung und Gewichtung von Werten ist
entscheidend dafür, wie Normen angewendet werden. Der Einzelne kann sich
hier nicht durchsetzen. Aber: Kann
es eine solche Entscheidung überhaupt geben?
Christie
sagt, im Idealfall seien die Interessen
des Individuums und der Gruppe deckungsgleich. Oder aber, falls dem einmal nicht
so sein sollte, man werde eine Lösung finden, die für den Einzelnen
verträglich ist. Denn die gesellschaftlichen Bedingungen, vor allem das
„Glaubenssystem“ würden verhindern, dass die Gruppe die
Situation nun vielleicht sogar noch ausnützt und etwa dem Computerexperten,
wenn er sich denn schon einige Male gegen Gruppeninteressen gestellt haben
sollte, wenn er mehrfach seine Individualinteressen betont haben sollte, zu
zeigen, dass es „so nicht
geht“.Die
Kontrollmöglichkeiten gegen seine solche Situation
bei
Christie sind gesellschaftlicher, nicht
rechtlicher Natur. Zentral sind daher die fünf Bedingungen und mit ihnen
die Frage ihrer Umsetzbarkeit. Sehen wir und die fünf Bedingungen nochmals
an. Die ersten drei: Möglichst großes Wissen voneinander,
Verletzbarkeit, Abhängigkeit werden beschrieben für vorstaatliche
Gesellschaften. Wiederholt findet man die Darstellung segmentärer
Kleingruppen, die eben diese Merkmale aufweisen. Auch die Verhaltensforschung
liefert unterstützende Argumente, dass die Kleingruppe jene
Verhaltensweisen fördern, ja „prosoziale Verhaltensweisen“
hervorbringen könne und damit auch jene Machtlosigkeit der
Entscheidungsträger an Plausibilität gewinnt. Aber die
Verhaltensforschung betont auch, dass dieses biologische Programm auf die
Kleingruppe ausgerichtet ist und dass wir Menschen in einer Gesellschaft, wo wir
den anderen als Fremde, als austauschbare Rollenträger wahrnehmen, viel
eher dazu neigen, aggressiver, repressiver und rücksichtsloser zu sein. Der
Schluss von den Merkmalen in vorstaatlichen Gemeinschaften auf eine Welt, die
von Anonymisierung und Globalisierung geprägt ist, ist ein Fehlschluss.
Doch selbst, wenn man daran
glaubte, solche Gemeinschaften finden zu können, wie
Christie
das tut, der sie in Nachbarschaften und Berufsgruppen entdeckt und für den
es im wesentlichen eine Frage der “Revitalisierung“ solcher Gruppen
ist, selbst, wenn man das annimmt, wird das “Glaubenssystem“
zentral. Es ist auch bei
Christie
das Wichtigste der Bedingungen, da es als Auffangbedingung konzipiert ist, das
es gewährleistet, auch einzelne Machtstrebende, die es durchaus gibt,
„unter Kontrolle zu halten“. Es ist also gar nicht so sehr das
Menschenbild, das Christie und den Rechtsstaat voneinander unterscheidet, als
vielmehr das Vertrauen in das „Glaubenssystem“. Wenn wir alle
Zweifel an seiner Existenz beiseite lassen, selbst wenn es das
„Glaubenssystem“ gäbe, so muss man deutlich sehen, was es
bewirken soll: Das Glaubenssystem
macht außerrechtliche, moralische Werte zu verbindlichen
Handlungsmaßstäben. Die Werte als Maßstab von Handlungen werden
zu Anforderungen an die Gesinnung des Einzelnen; damit soll die Motivation des
einzelnen Menschen beeinflusst werden. Es gibt keine Trennung mehr von
Motivation und äußerem Verhalten oder anders ausgedrückt: von
Recht und Moral. Dies widerspricht daher fundamental dem zentralen Charakter des
Rechtsstaats: der Freiheit als Wahl, Werte zuzulassen und Handlungen, aus
welchen Motiven auch immer, äußerlich nach den Anforderungen
auszurichten. Das Glaubenssystem ist ein Machtpotential für die Mehrheit
der Gruppe, bei dem der Einzelne keine realen Möglichkeiten hat, eigene,
divergierende Lebensentwürfe durchzusetzen. Diese Struktur ist
freiheitswidrig, ja sie ist totalitär.
Die fünf Bedingungen als
Kontrolle gegen Machtmissbrauch sind rechtsstaatlich nicht umsetzbar. Der Grund
liegt in der fehlenden Gewichtung der Individualinteressen gegenüber der
Gemeinschaft. Dieses
strukturelle Problem setzt sich im Verfahren fort. Selbst wenn man nun
versuchte, das Verfahren durch das Einbringen rechtlicher Elemente in ein
rechtsstaatliches zu verändern, so wäre doch auch das Ziel des
Verfahrens, Vergebung und Versöhnung zu erreichen, und damit Rechtsfrieden
und so eine höhere Normkonformität ( ein durchaus rechtsstaatliches
Ziel !) zu erreichen, so wäre doch auch dies von der genannten Gewichtung
durchdrungen: Wo Versöhnung und
Vergebung zentral sind und ohne Alternative gelten, wo sie zum Muss werden, da
lassen sie dem Einzelnen keine Chance, sich diesen Zielen zu verweigern: auch
hier wird so stark auf die innere Motivation des Einzelnen Einfluss zu nehmen
versucht, dass er außer des inneren Rückzugs, der Heuchelei, keinen
Ausweg mehr hat. Dann aber sind Vergebung und Versöhnung unerreichbar und
die Plausibilität des Modells wird brüchig.
Die Trennung von Recht und Moral
wird so zur Grundbedingung rechtsstaatlicher Freiheit.
Christies
Modell ist strukturell freiheitswidrig und es ist daher auch im Verfahren
rechtsstaatlich nicht änderbar.
 Wo
Individualinteressen sich nicht gegen Werte der Gemeinschaft durchsetzen
können, da fehlt jede Möglichkeit, freiheitsschaffende Garantien
umzusetzen.
O’Hagan
hat daher recht, wenn er sagt: „Ein Rechtsstaat, wenn er denn ein
Rechtsstaat sein soll. Kann als grundlegendes Ziel nicht die Stärkung eines
Glaubens oder zwischenmenschlicher Liebe haben“.
Ich möchte nun noch auf
einen Aspekt im Modell
Louk
Hulsmans zu sprechen kommen, der als
einziger der von mir betrachteten Abolitionisten ein Modell vorschlägt, das
keine Änderung der gesellschaftlichen Bedingungen erfordert, weshalb er
auch in diesem strukturellen Bild keine Probleme hat.
Hulsman
stellt ein Modell ohne Strafrecht vor, das sich allein um die Geeignetheit einer
Konfliktlösung für die Konfliktbeteiligten rankt und die Auswirkungen
des Normbruchs auf andere nicht in betracht zieht. Er reduziert also die
Betrachtung auf die Binnenwirkung eines Konflikts, ohne auf die
gesellschaftliche Funktion des Rechts einzugehen. Ich habe bereits
ausgeführt, dass Recht eine Erwartungen sichernde Funktion hat und
Vertrauen auf das Bestehen und die Gültigkeit von Normen schaffen und
sichern soll. Dass Normbrüche dieses Vertrauen beeinträchtigen
können, ist evident. Deutlich wird dies in Extremfällen wie s immer
wieder vorgekommen: Kinder, die verschwinden, die später sexuell
misshandelt und vielleicht sogar tot aufgefunden werden. Wie groß ist das
gesellschaftliche Entsetzen und wie groß ist auch die Angst jener, die
sich in ähnliche Situationen versetzen können!
Natürlich sind Reaktionen
dieser Art je nach Bereich unterschiedlich heftig. Man kann dies auch
kategorisieren, wie ich es versucht habe, aber jedenfalls gilt: wo subjektive
Rechte betroffen sind, die jeder gegenüber anderen in gleicher Weise
besitzt, die also ihre Grundlage in der Individualität des Einzelnen haben
und nicht nur in speziellen, affektiven Beziehungen oder abgetrennten Gruppen
bestehen, dort muss es eine Versicherung geben, dass ein Normbruch die Norm
nicht in Frage stellt. Dies ist keine Theorie positiver Generalprävention,
aber fordert die Beachtung der Drittrelevanz des Konflikts; allein die
Binnenwirkung ohne Signalwirkung nach außen ist nicht ausreichend.
Hulsmans
Modell jedoch wäre mit Modifikationen in dieser und anderer Hinsicht
rechtsstaatlich adaptierbar, nur bliebe wenig andere übrig als ein Modell
der Wiedergutmachung, als TOA Modelle, die bereits
existieren.
 VI.
Lassen Sie mich zur Abrundung noch
eine These Sebastian
Scheerers aufgreifen, der vor ca. 20
Jahren den Abolitionismus eine „sensitivierende Theorie“ genannt
hat, eine Theorie, die zunächst nicht den Anspruch erhebe, als Modell ernst
genommen zu werden. Ein solcher Versuch sei wie ein „Flugversuch mit dem
Ei“. Ich habe einen solchen
Versuch unternommen anhand von vier Modellen, die so geschlossen und
kohärent argumentieren, dass eine Überprüfung möglich war.
Ich kann nach alledem
Scheerer
nur bedingt zustimmen: Der
Abolitionismus ist sensitivierend in einem Sinn, wie es wohl
Scheerer
nicht meinte, indem er nämlich das
Augenmerk auf die Minimalprinzipien des Rechtsstaats lenkt, der hier als
übernationales, ein breites Spektrum von Möglichkeiten bietendes
Prinzip wirksam wird. Dieses Prinzip kann als Maßstab im Sinne einer
konkreten Utopie wirksam werden, die ideologiekritisch ist: ideologiekritisch
hinsichtlich unfreiheitlicher Modelle, aber auch ideologiekritisch
gegenüber Entwicklungen in der Realität, wenn und soweit sie die
unterliegende Struktur zu verändern drohen.
Ich möchte
Scheerer
aber insoweit widersprechen, als ich der Ansicht bin, dass der Abolitionismus,
solange und soweit er so konsequent außerrechtlich argumentiert, nicht
mehr verspricht als jene erwähnte Schärfung des Blicks. Denn das
Versprechen einer bessern Welt, das die Kritik am Strafrecht so emotional
untermauert, ist ein Mythos. Wo Freiheit erhalten bleiben soll, dürfen die
Mechanismen ihrer Gewährleistung und Sicherung nicht vermeintlichen Idealen
geopfert werden. Ich danke Ihnen.
[Disputationsvortrag, vom 12. November 2001 in Saarbrücken, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität des Saarlandes]
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